zwischen identität und leitkultur – die debatte um das minarett

 

31-08-2019

Repräsentative Moscheebauten mit Minarett werden häufig von Debatten begleitet. Sollten Muslime aufgrund der gesellschaftlichen Skepsis und Sanktionen auf das Minarett verzichten? Ein Gastbeitrag von Burak Barut.

Bei der Volksabstimmung 2009 in der Schweiz, die von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) lanciert wurde, stimmten 57 Prozent für ein Minarettverbot. In der Schweiz haben nur vier Moscheen ein Minarett. Seit dem Volksentscheid dürfen dort keine weiteren Minarette gebaut werden. Obwohl dieses Ergebnis rechtlich nur auf die Schweiz beschränkt ist, hat es in vielen westeuropäischen Ländern die gesellschaftlichen und politischen Diskurse beeinflusst. Dass ein solches Verbot in Deutschland (noch) nicht erlassen wurde, bedeutet nicht, dass das Minarett als symbolischer Bestandteil der Moschee gesellschaftlich akzeptiert wird.

Angesichts immer wieder aufflammender Diskussionen über Integration und Leitkultur stößt das Bedürfnis der Muslime nach repräsentativen Moscheen auf wenig Zustimmung. Doch warum ist es für Muslime wichtig, dass ihre Moscheen als solche erkennbar sind?

Beinahe jede menschliche Handlung dient einem höheren Zweck. Das gilt auch für die Errichtung von Gebäuden. Alle funktionalen und gestalterischen Elemente des Bauwerks sind auf diesen übergeordneten Zweck ausgerichtet. Deshalb kann selbst die Anordnung von Fenstern, Türen und sogar Ziegeln an einer Moschee nicht unabhängig vom ganzheitlichen Bestreben vorgenommen werden.

Funktionales Moscheemodell in Westeuropa

Moscheen sind Treffpunkte. Es kommen Muslime zusammen, um ihre täglichen Gottesdienste auszuführen. Sie erfüllen aber auch viele soziale Bedürfnisse. Deshalb standen sie in der Vergangenheit oft im Stadtzentrum. Die bis heute in Westeuropa und besonders in Deutschland genutzten Gebetshäuser wurden von der ersten muslimischen Einwanderergeneration überwiegend zu solchen umgebaut und nicht als Moscheen geplant.

Aus einer rein funktionalen Perspektive kann man jeden beliebige Bau, ob Wohnung, Haus oder Halle, relativ leicht zu einer Moschee umfunktionieren. Muslime in Deutschland und Westeuropa übernahmen zunächst diese minimalistische Idee. Grund waren ihre begrenzten finanziellen Ressourcen.

Menschliche Bedürfnisse lassen sich jedoch nicht allein aus der Perspektive bloßer Notwendigkeit und Funktionalität betrachten. Auch die ästhetische Dimension, Schönheit und Harmonie spielen eine wichtige Rolle. Viele Muslime haben eine normative Vorstellung davon, wie ein Gebetshaus sein sollte.

Gerade die junge, wirtschaftlich und intellektuell erfolgreiche Generation von Muslimen in Westeuropa setzt der funktionalistischen Sichtweise ihr Bedürfnis nach Schönheit und Ästhetik entgegen.

Gerade die junge, wirtschaftlich und intellektuell erfolgreiche Generation von Muslimen in Westeuropa setzt der funktionalistischen Sichtweise ihr Bedürfnis nach Schönheit und Ästhetik entgegen.

Architektonische Elemente, wie etwa das Minarett und die Kuppel, erhalten eine neue Stellung: Demnach gilt das Minarett zwar nicht als entscheidender Faktor für die Existenz einer Moschee, wohl aber für ihr Wesen. Oder anders ausgedrückt: Ein fehlendes Minarett schränkt die Funktionalität der Moschee nicht ein. Es stellt vor dem Hintergrund des unter Muslimen vorherrschenden Moscheebildes aber ein Defizit dar.

Identitätskonstruktion und Öffentlichkeit

Im Zusammenhang mit der Diskussion um Minarett spielen die Begriffe „Zugehörigkeit“ und „Angehörigkeit“ eine wichtige Rolle. Zugehörigkeit meint lediglich die rein begriffsmäßige und passive Anwesenheit eines Individuums in einer Gesellschaft. Der Begriff der Angehörigkeit bezieht sich auf eine aktive, spirituelle und intensiv gelebte Beziehung des Individuums zu dieser Gesellschaft. Muslime wechseln von der Ebene der bloßen Zugehörigkeit auf die der Angehörigkeit. Denn sie leisten auf vielen Gebieten Beiträge zum Wohle der Mehrheitsgesellschaft. Dies erlaubt ihnen zugleich, ihre muslimische Identität selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen zu können. Dazu gehören auch Bauten, die ihre dauerhafte Anwesenheit sichtbar machen.

Der Minarett-Bau im Schatten der kulturellen Hegemonie

Jedes öffentliche Wirken und jede Entscheidung, die die Gestaltung öffentlicher Räume betrifft, vollziehen sich im Spannungsfeld gesellschaftlicher Normen, kultureller Werte und ethischer Grundsätze. An dieser Stelle ist es sinnvoll, einen Blick auf das komplexe Verhältnis zwischen politischer Macht und Kultur im Hinblick auf den Minarett-Bau zu werfen.

Landes- und Kommunalregierungen sind grundsätzlich an der Erhaltung ihrer Regierungsmacht interessiert. Dazu orientieren sie sich an den Meinungen und ethischen Werten des sogenannten gesellschaftlichen „Mainstreams“. Dieser lehnt repräsentative Moscheebauten mit Minarett und Kuppel häufig ab. Da das Grundgesetz eine offene Diskriminierung religiöser Minderheiten jedoch verbietet, müssen andere Wege gefunden werden, eine Politik gegen das Minarett zu betreiben. Regierungsvertreter legen den Repräsentanten der muslimischen Minderheit deshalb „Versöhnungsvorschläge“ vor. Diese beruhen auf einem rein symbolischen und funktionalistischen Moscheebild. Antonio Gramsci verarbeitet dieses Vorgehen in seinem Konzept der „Kulturellen Hegemonie“.

Damit beschreibt er eine Politik der staatlichen Einflussnahme auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen. Ziel ist es ihnen das dominierende, von der Regierung getragene kulturelle Wertesystem nahezubringen. Dieses Form der Einflussnahme spiegelt sich in den „Ethik“- und „Leitkultur“-Debatten wieder. Darin versuchen deutsche Politiker auch unter Muslimen das Bild einer Moschee zu etablieren, die ohne Minarett auskommt oder abseits der gesellschaftlichen Zentren liegt. Um diese Vorstellung auch bei denjenigen Muslimen zu verankern, die nicht als Teil des Mainstreams betrachtet werden, kommen Politikvertreter ihnen mit weitreichenden Kompromissen entgegen.

Sanktionen für ein Stadtbild ohne Minarett

Solche Kompromissvorschläge gleichen oft einer Win-Lose-Situation: Die zentrale Lage geht zulasten des ästhetischen Werts. Dieser wiederum ist nur in städtischer Randlage zu haben. Allerdings um den Preis der fehlenden Sichtbarkeit. Derartige Sanktionen erfüllen die Forderungen des Mainstream-Milieus nach einem Stadtbild ohne Minarett. Die Einschränkung der Nutzung des gemeinsamen städtischen Lebensraumes beschränkt wiederum das Angehörigkeitsgefühl der Muslime.

Aufgrund des steigenden Bildungs- und Wohlstandsniveaus der Muslime ist jedoch zu vermuten, dass künftig die Zahl der Moscheebauten mit Minarett in Deutschland im Vergleich zur aktuellen Situation ansteigen könnte. Der Wunsch vieler Muslime nach einer Harmonie von Funktion und Ästhetik wird jedoch auch weiterhin den vom Mainstream und vom moralischen Determinismus bestimmten versöhnungspolitischen Maßnahmen gegenüberstehen.

Daher sollten Muslime Moscheen bauen, die die funktionsästhetische Harmonie umfasst und für die Konstruktion einer muslimischen Identität entscheidend sein können. Aber befreit von der Form-Gestalt-Übertreibung, welcher der moderne Mensch so großen Wert beimisst.

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